Von Julian Bernstein, Paris, 06. Mai 2020 / Dokument als PDF
Dass Deutschland bislang deutlich besser durch die Corona-Krise kam als Frankreich, hat viele Franzosen verunsichert.
Während Deutschland sich derzeit in einem Überbietungswettbewerb befindet, wer am schnellsten die Corona-Maßnahmen lockert, herrscht in Frankreich immer noch einer harter Lockdown. Auch nach fast sieben Wochen dürfen die Franzosen nur eine Stunde vor die Tür, selbstverständlich nur in einem Umkreis von einem Kilometer um die eigene Wohnung und das auch nur mit ausgefüllter Ausgangssbescheinigung. Umso erstaunter blickt man in Frankreich derzeit auf den Nachbarn im Osten. Dass Deutschland im internationalen Vergleich zumindest bisher vergleichsweise locker durch die Krise kam, hat viele Franzosen überrascht, wenn nicht gar verunsichert. Wäre die Krise ein Fußballspiel, wie manche witzeln, der Gewinner stünde fest.
Das Schielen auf Deutschland ist nicht neu. Vor allem unter französischen Politikern scheint es in den letzten Jahren zu einem Volkssport geworden zu sein, Deutschland wahlweise als Positiv- oder als Negativbeispiel anzuführen, um für eigene politische Ziele zu werben. Besonders obsessiv hat das seinerzeit Nicolas Sarkozy betrieben, dem es vor allem die deutschen Arbeitsmarktreformen angetan hatten. Das ging so weit, dass der Linksnationalist Jean-Luc Mélenchon während des Präsidentschaftswahlkampfs 2012 spottete, Sarkozy solle statt in Frankreich doch lieber gleich auf der anderen Seite des Rheins kandidieren.
Auch die französischen Medien bringen gerne ausführliche Deutschlandvergleiche, durch die sich nicht selten Neugier und Bewunderung, manchmal aber auch Konkurrenzdenken und Abstiegsängste ziehen. In der Coronakrise dominiert derzeit das nicht totzukriegende Stereotyp der deutschen Effizienz, der „efficacité allemande“ – in Frankreich ein geflügeltes Wort. Eine Schlagwortsuche bei Google ergeben allein aus den letzten Wochen Dutzende Treffer, z.B. hier, hier oder hier. In den Texten werden häufig Zahlenvergleiche – Infizierte, Tote, Intensivbetten etc. – angestellt, ein bisschen wie bei einem Quartett. Tatsächlich hat Deutschland angesichts mittlerweile mehr als 25.000 Corona-Toten in Frankreich eine eindeutig bessere Bilanz vorzuweisen. Neben den aus französischer Perspektive wenig erfreulich ausfallenden Zahlenvergleichen werden mit großer Aufmerksamkeit auch die Stärken der deutschen Industrie registriert. Als in Frankreich etwa über die Knappheit an Beatmungsgeräten diskutiert wurde, stellten viele Kommentatoren mit Bedauern fest, dass es in dem Land mit Air Liquide lediglich einen kleinen, in der Krise überforderten Hersteller dieser Geräte gibt, während Deutschland mit Dräger und Weinmann gleich zwei größere Produzenten vorweisen kann. Ebenso nahmen viele Franzosen mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis, dass die deutsche Biotechnologie-Firma BioNtech kürzlich mit dem Testen eines Impfstoffs begonnen hat. In Frankreich hingegen soll frühestens im Juli eine klinische Studie starten. In den sozialen Netzwerken hagelte es daraufhin giftige Kommentare, in denen der französische Rückstand und zuweilen auch der deutsche Vorsprung bitter beklagt wurden.
Als regelrechtes Debakel empfinden viele Franzosen darüber hinaus das Hinterherhinken bei den Corona-Testkapazitäten. Der französische Premierminister Edouard Philippe musste sich im Parlament die Frage gefallen lassen, wie es denn sein könne, dass in Frankreich lange Zeit gerade einmal 100.000 Tests pro Woche durchgeführt würden, während es Deutschland auf bis zu 500.000 Tests brächte. Philippe wusste sich nicht anders zu helfen, als die deutschen Zahlen anzuzweifeln – ein Manöver, das bei seinen Zuhörern eher schlecht angekommen sein dürfte.
Auffällig an der aktuellen Vergleichswut ist, dass negative Aspekte in Deutschland meist ausgeblendet werden. Dass Deutschland schlichtweg Glück hatte, den Lockdown gerade noch rechtzeitig implementiert zu haben, und dabei maßgeblich durch Frankreich, das bei den Maßnahmen voranging, unter Zugzwang gesetzt wurde, wird geflissentlich ignoriert. Vielmehr wird die Tatsache, dass Deutschland bisher besser durch die Krise kam, gerne einer angeblich klaren „deutschen Strategie“ zugeschrieben – angesichts der Fülle widersprüchlicher Aussagen deutscher Politiker und Behörden eine sonderbare Vorstellung. Besonders weit ging kürzlich der Historiker Johann Chapoutot. In einem vielgelesenen Interview mit dem kritischen Online-Medium Mediapart malte er die politische Kultur Deutschlands in den schönsten Farben. Während Merkel als aufgeklärte Wissenschaftlerin an die Vernunft der Bürger appelliere, so Chapoutot, tischten die französischen Verantwortlichen den Menschen Lügen auf. Der Historiker bezog sich unter anderem auf die widersprüchlichen Aussagen französischer Politiker zum Tragen von Gesichtsmasken in der Öffentlichkeit. Dass die Diskussion über das Tragen von Masken in Deutschland fast deckungsgleich zu Frankreich verlief, dass Personen, die in Deutschland Masken in der Öffentlichkeit trugen, sich u.a. von Lothar Wieler vom Robert Koch Institut vor einigen Woche noch harsche Kritik gefallen lassen mussten, erwähnt Chapoutot lieber nicht. Deutschland bleibt in erster Linie eben Projektionsfläche.
(Julian Bernstein, 06.05.2020)
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