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Die langweiligsten Spaziergänge der Welt

Von Julian Bernstein, 7. April 2020 / Dokument als PDF

Warum in Frankreich weniger über die Ausgangsbeschränkungen gejammert wird.

Seit genau 21 Tagen haben meine Frau und ich ein tägliches Ritual. Es ist allerdings keines, das uns große Freude bereitet. Es besteht im gemeinsamen Ausfüllen der „Attestation de déplacement“ – unserer Ausgangsbescheinigung. Seit dem 17. März ab 12 Uhr sind die Franzosen dazu angehalten, auf der Straße einen täglich neuausgedruckten Zettel mit sich zu führen, auf dem sie den Grund ihres „Ausgangs“ vermerken müssen. Anfangs sah dieses Dokument, das man sich unter anderem auf der Webseite des Innenministeriums herunterladen kann, noch recht improvisiert aus. Es reichte, den Namen, die Adresse und den Wohnort anzugeben sowie ein Kreuzchen bei einer der unterschiedlichen Ausgangs-Kategorien zu machen – fertig. Seit Emmanuel Macron am 23. März jedoch per Dekret den „sanitären Ausnahmezustand“ verhängt hat, wurden die Bedingungen deutlich verschärft. Wenn wir zum Luftschnappen eine Weile vor die Tür wollen, müssen wir mittlerweile auch Geburtsdatum, Geburtsort und sogar die genaue Uhrzeit, zu der wir das Haus verlassen, notieren. Denn die erlaubte Ausgangszeit – zumindest für Aktivitäten wie Sport oder gemeinsames Spazierengehen – wurde nun auf maximal eine Stunde täglich reduziert. Auch dürfen wir uns nur noch im Umkreis von einem Kilometer um unsere Wohnung herum aufhalten. Dass unsere täglichen Spaziergänge so keinen allzu großen Spaß machen, wäre eine Untertreibung. Es sind die ödesten Spaziergänge, die man sich vorstellen kann. Die Straßen und Wege um unsere Wohnung – wir haben sie bereits in allen möglichen Kombinationen abgelaufen.

So ähnlich dürfte es derzeit fast allen Menschen in Frankreich gehen. Mit der Ausgangssperre ist niemand wirklich glücklich, von den Herstellern von Druckern und Tintenpatronen, die in den letzten Wochen ein Riesengeschäft machen konnten, einmal abgesehen. Dennoch regt sich erstaunlich wenig Protest. Während sich in Deutschland, das deutlich lockerere Maßnahmen ergriffen hat, bereits einige Kommentatoren wahlweise in einer von Virologen gesteuerten Diktatur oder einem unerbittlichen Überwachungsstaat wähnen, herrscht in Frankreich auch in den Medien überwiegend Zustimmung. Der Grund dürfte darin liegen, dass in Frankreich mit nun fast 9000 Corona-Toten noch dem letzten Freiheitskämpfer dämmert, dass das Land die letzten Tage haarscharf an einer Katastrophe vorbeigeschrammt ist. Derzeit werden landesweit 7072 schwer an Covid-19 erkrankte Franzosen auf Intensivstationen beatmet – dabei standen in Frankreich zu Beginn der Krise lediglich rund 5000 Intensivbetten zur Verfügung. Allein aus Paris mussten in den letzten Tagen Hunderte Patienten in andere Regionen Frankreichs evakuiert werden, um den ansonsten sicheren Zusammenbruch des Gesundheitssystems abzuwenden. Dass es nicht so weit kam, dürfte den zwar späten, dafür aber umso energischeren Eindämmungsmaßnahmen zu verdanken sein.

Daher akzeptieren natürlich auch wir die lästigen Maßnahmen. Ob es wirklich sinnvoll ist, den Menschen lediglich einen Bewegungsradius von einem Kilometer zuzugestehen, sei dahingestellt. Jedenfalls bedeutet es nicht das Ende der französischen Demokratie. Und zumindest mit dem Zettelausfüllen hat es nun ein Ende. Die Ausgangsbescheinigung gibt es jetzt auch als App. (Julian Bernstein, 07.04.2020)

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