Von Julian Bernstein, Paris, 11. April 2020 / Dokument als PDF
Wie ein unbekannter Spitzenbeamter über Nacht zu Frankreichs „Monsieur Coronavirus“ wurde.
In der Corona-Krise entwickelt jedes Land seine eigenen Rituale. Was in Deutschland die Pressekonferenzen mit Jens Spahn und Lothar Wieler sind, sind in Frankreich die fast täglichen Auftritte von Jérôme Salomon. Meist zwischen 19 und 20 Uhr tritt der directeur général de la Santé, die Nummer zwei des Gesundheitsministeriums, vor die Kameras und verwandelt sich in Frankreichs obersten Leichenbestatter, wie man unter französischen Journalisten witzelt. Denn Salomon obliegt die Aufgabe, per Pressekonferenz zu besten Sendezeit die täglichen Opferzahlen zu verkünden. Den bis dahin fast gänzlich unbekannten Spitzenbeamten, von Haus aus Arzt, Forscher und Epidemiologe, hat dieses morbide Spektakel in Frankreich zu dem bekanntesten Gesicht dieser Krise gemacht – mit allen negativen Begleiterscheinungen. Auf Twitter und Youtube wurde er bereits antisemitisch angefeindet. Öffentlich kommentiert Salomon diese Angriffe nicht. Der 51-Jährige, der nicht nur ein Enkel einer jüdischen Résistancekämpferin, sondern auch noch ein direkter Nachfahre des Offiziers Alfred Dreyfus ist, gilt als verschwiegen.
Seinen Eintritt in die Schattenarmee der politischen Berater hat der im bürgerlichen 16. Arrondissement aufgewachsene Regierungsbeamte unter anderem dem früheren Gesundheits- und Außenminister Bernard Kouchner zu verdanken. Anfang der 90er Jahre nahm der ihn in seinen Beraterstab auf. Noch heute zählt man Salomon daher zu den „Kouchner Boys“, einer Reihe von Männern, denen der Politiker den Weg nach oben geebnet hat. 2016 schloss sich Salomon Emmanuel Macron und seiner Bewegung „En Marche!“ an und wurde zeitweise sogar als Gesundheitsminister gehandelt. Wie Le Monde berichtet, soll der Spezialist für Infektionskrankheiten bereits früh die Gefahr von Covid-19 erkannt und intern die Alarmglocken geläutet haben. Bereits im Januar forderte er den systematischen Aufbau ausreichender Testkapazitäten – lange einer der größten Schwachpunkte im Kampf gegen Corona in Frankreich. Auch wies er, wie aus einer Reihe von geleakten Mails hervorgeht, gegenüber Macron bereits seit 2016 immer wieder auf eklatante Schwächen des französischen Gesundheitssystems hin, etwa auf die geringe Anzahl an verfügbaren Intensivbetten. Die Warnungen blieben offensichtlich ungehört.
Seit Ausbruch der Pandemie findet sich der von den französischen Medien „Monsieur Coronavirus“ getaufte Salomon allerdings in einer gänzlich anderen Position wieder. In seinen öffentlichen Statements kommt ihm nun die undankbare Rolle zu, die Versäumnisse der Regierung kaschieren zu müssen. Mit den französischen Testkapazitäten gäbe es keinerlei Probleme, auch könne keine Rede von einem Mangel an Schutzmasken sein, gab er noch am 26. Februar in einer Senatsdebatte zu Protokoll. Der Chef der Ärztegewerkschaft Fédération des médecin de France, Jean-Paul Hamon, wirft ihm daher nicht zu Unrecht vor, die Öffentlichkeit in seinen abendlichen Ansprachen mehrfach belogen zu haben.
Salomon selbst meistert die Wandlung vom Warner zum loyalen Regierungslautsprecher mit Bravour. Der Tonfall auf seinen Pressekonferenzen ist, wie so häufig in Frankreich, paternalistisch, kritische Nachfragen von Journalisten gibt es kaum. Seine Vorträge folgen zudem einer gewissen Dramaturgie: Bis zum Höhepunkt – der Bekanntgabe der Todeszahlen – müssen sich die Zuschauer gedulden. Zunächst erwarten sie längliche Referate über die vermeintlich erfolgreichen Maßnahmen der französischen Regierung. Viel Positives konnte er diese Woche allerdings nicht berichten. Denn Frankreich befindet sich mit mittlerweile über 13.000 Corona-Toten in der tödlichsten Woche seit Ausbruch der Krise. Immerhin bei seinen letzten beiden Auftritten konnte Jérôme Salomon den Franzosen ein wenig Hoffnung machen. Zum ersten Mal ging die Zahl der französischen Patienten auf den Intensivstationen zurück. Zumindest ein wenig – auf 7004.
(Julian Bernstein, 11.04.2020)
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