Von Julian Bernstein, 4. April 2020 / Dokument als PDF
Das Département Moselle befürchtet, von der Pariser Zentralregierung im Stich gelassen zu werden.
Eine Kolumne aus Paris sollte am besten mit Paris beginnen. Aus der französischen Hauptstadt gäbe es wahrlich genug zu berichten: zum Beispiel über die Krankenhäuser, die kurz vor dem Kollaps stehen, über die sonderbar leeren Straßen, über die beunruhigenden Vorkehrungen für den epidemiologischen Ernstfall. Der Polizeipräfekt hat am Donnerstag etwa eine 4000 m² große Markhalle requiriert – sie soll in den Zeiten von Corona als zusätzliche Leichenhalle dienen. Bislang steht sie allerdings leer. Denn das große Sterben, auf das man in Paris in diesen Tagen wartet, findet derzeit woanders statt – weit im Osten Frankreichs, der Region Grand Est in unmittelbarer Nachbarschaft zu Deutschland.
Die aus Elsass-Lothringen und Champagne-Ardenne bestehende, rund 5,5 Millionen Einwohner zählende Region hat bis heute 1311 Corona-Tote zu beklagen. Rechnet man die in Alters- und Pflegeheimen Verstorbenen mit ein, die in der offiziellen Statistik nicht aufgezählt werden, kommt man gar auf 1881 Tote. Besonders hart getroffen hat es das Elsass. Weil es an Intensivbetten mangelt, ist man dort dazu übergegangen, die knappen Ressourcen für Patienten mit den besten Überlebensaussichten aufzusparen. Wer das Pech hat, älter als 74 zu sein, der hat, wie mir eine selbst an Covid-19 erkrankte Ärztin kürzlich berichtete, in der Regel nur noch Palliativpflege zu erwarten. Sanft entschlafen sollen diese Patienten. Die Behandlungsmethode der Wahl: Opiate und andere atemdepressiv wirkende Medikamente.
Dass die französische Regierung die Situation im Elsass derart eskalieren ließ, ist angesichts der auch heute noch in anderen Teilen Frankreichs verfügbaren Ressourcen befremdlich. Neben West- und Südfrankreich hätte noch bis vor zwei Wochen selbst die heute überlastete Großregion Paris, die Ile de France, elsässische Patienten aufnehmen können. Stattdessen schickte Macron reichlich spät, aber von großem medialen Tamtam begleitet ein eher mittelmäßig ausgerüstetes Feldlazarett mit gerade einmal 30 Betten nach Mulhouse. Hinzu kamen ein paar halbherzige Evakuierungen, von denen der überwiegende Teil ins Ausland ging. Mehr als 170 Patienten wurden bislang nach Deutschland, Luxemburg, die Schweiz und sogar nach Österreich transportiert – eine Tatsache, die man in Frankreich nicht gerne an die große Glocke hängt.
Einen ähnlichen Umgang seitens der Pariser Zentralregierung befürchtet man nun auch im Département Moselle. Mit 335 Todesfällen (Altersheime mitgerechnet) auf eine Million Einwohner ist es eines der am stärksten betroffenen Départements in ganz Frankreich. Spätestens seit vorigem Wochenende steht dem Krankenhauspersonal in Metz, Forbach und Saargemünd das Wasser bis zum Hals. Weil es an Beatmungsgeräten fehlt, musste man in Metz gar auf die Hilfe von Veterinären zurückgreifen. Sieben Patienten sind heute noch am Leben, da sie an umgerüstete Tier-Beatmungsgeräte angeschlossen sind. Zudem könnten dem Département trotz wiederholter Bitten um Nachschub in den nächsten Tagen wichtige, unter anderem für die Anästhesie von Covid-19-Patienten benötigte Medikamente ausgehen. Allein von Donnerstag auf Freitag starben allein in den Krankenhäusern 40 Covid-19-Patienten.
Um auf die katastrophale Lage aufmerksam zu machen, griff die Leiterin des Centre Hospitalier Régional (CHR) Metz-Thionville, Marie-Odile Saillard, Anfang der Woche zu ungewöhnlichen Mitteln. Statt sich an das Gesundheitsministerium zu wenden, appellierte sie auf mehreren Fernsehkanälen direkt an die französische Öffentlichkeit: Ohne die Solidarität anderer Regionen Frankreichs könne sie eine angemessene Behandlung der Covid-19-Patienten in der Moselle nicht mehr sicherstellen, sagte sie, und forderte mindestens 12 Evakuierungen täglich. Und Sébastien Guette, Chefanästhesist im Centre Hospitalier in Metz, beklagte gegenüber der Tageszeitung Républicain Lorrain, dass er und seine Kollegen den Eindruck hätten, dass Deutschland mehr helfe als Frankreich. Dass die Moselle von Paris im Stich gelassen werden könnte, befürchtet man mittlerweile auch in der lokalen Politik. Zehn Abgeordnete des Départements schickten in dieser Woche ein Schreiben an den französischen Gesundheitsminister Olivier Véran, in dem sie um Evakuierungen und medizinische Ausrüstung baten. Veran ließ den Brief bislang unbeantwortet.
Die Proteste aus Moselle dürften jedoch immerhin dazu beigetragen haben, dass man am Freitag sechs Patienten aus dem Département mit einer Militärmaschine nach Toulouse ausgeflogen hat. Durch Evakuierungen an den Tagen zuvor, darunter am Donnerstag acht französische Patienten per Hubschrauber und Learjet nach Magdeburg und Dresden, verfügt das CHR in Metz fürs erste immerhin wieder über 25 freie Intensivbetten – Stand Freitagabend. Wie lange die ausreichen werden? „Zumindest übers Wochenende“ sollten sie damit kommen, heißt es von Krankenhausleiterin Marie-Odile Saillard. (Julian Bernstein, 04.04.2020)
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